KARL MAY
[Von einem deutschen Korrespondenten]
UM Deutschland zu verstehen, muss man seinen Fiihrer verstehen. Um den " Fiihrer " zu verstehen, muss man wiederum dessen geistige Entwicklung verstehen. Hiders Entwicklung aber steht im Zeichen von Karl May. Wer ist nun dieser Karl May, der einen Hitler beeinflussen und durch das Medium Hitler eine ganze Nation geistig fiihren konnte ? Der 25.Todestag von Old Shatterhand alias Karl May ist uns eine willkommene Gelegenheit zu dieser Betrachtung.
Karl May wurde geboren am 25.Februar 1842 in Hohenstein, als Sohn eines Webers, war bis zu seinem sechsten Lebensjahre blind, wurde wegen Diebstahl wiederholt bestraft, schrieb zahkeiche phantastische Reisebeschreibungen, im ganzen vierzig Bande, and starb am 3o.Marz 1912 in Radebeul.
Er hat eine ausserst komplizierte und problematische Jugend gehabt, dieser sachsische blinde Weberjunge und vielleicht 1st es gerade diese ungewohnliche Form des ersten Erlebens, das die jungen Menschenskinder vor und auch wahrend der Pubertat so heftig beriihrt. Freilich schwindet normalerweise die Karl-May-Schwarmerei mit der einsetzenden Mannbarkeit und nur bei besonders infantilen oder hysterischen Typen bleiben die Visionen Shurehands und Winnetous starker als die Realitaten des Alltags. Aber Karl May war nicht nur ein korperlich behindertes und schwer erziehbares Kind, er war auch als Jangling und Mann ein asozialer, ein krimineller Typ, ein Mensch, der die Schatten dieser Taten und Prozesse zeit- lebens floh und ihnen niemals entkam. Irgendwelche Tugend- richter batten diese Jugendverfehlungen ausgekramt und damit dem weisshaarigen Sechziger den Todesschlag verse= ; der Alte hat sich von diesem Prozess, in dem er weinend zusammenbrach, nie wieder erholt. In seiner Selbstbiographie, die den bezeichnenden Titel " Ich " fiihrt, hat er diese Jugendtaten als Streiche seines Unterbewusststeins hinstellen wollen, urn sich dann mit einem fast abenteuerlichen Aufwand an Religiositat selbst freizusprechen. Es ist heute, trotz des Vierteljahrhunderts, das sein Leben von dem unseren trennt, noch nicht an der Zeit, in die finsteren " ewigen Jagdgrfinde " von Abenteurertum, Jugend, Krieg und KriminalitAt hinab- zusteigen. Noch ist es zu friih, das Dritte Reich am dem Reiche Winnetous, des Fiihrers der Apachen zu erklaren. Aber diese Arbeit wird einmal geleistet werden ; sie muss einmal geleistet werden.
Die Jugend kiimmert sich wenig um die Abgrfinde von Karl May's Seelenleben, sie verschlingt mit derselben Leidenschaft und Kritiklosigkeit Karl May wie Edgar Wallace; ihnen macht es keinen Unterschied, ob ein Gangster weisshautig oder rothautig, ob der Held ein blonder Apache oder ein briinetter Arier ist. Die Jugend berauscht sich an Karl May, weil der Held in Ich-Form erscheint und es fur den Heinen Leser mit gliihenden Backen nicht schwer 1st, sein " Ich " mit dem " Ich " Winnetous zu identifizieren. So triumphiert der kleine Fritz Schmidt auf seinem Nachmittagskanapee oder hinter seinem Zaunversteck aber alle Feinde, Ekem und Lehrer und missgfinstige Kameraden. So ersteht in Him aus dem Wunschtraum nach Reistn, Macht und Abenteuem jenes schiefe und einseitige Weltbild, das ihn nur urn so fester an die Gangster-Ideale professioneller Verbrecher fesselt.
Karl May and Jules Verne, sie waren die Schiller und Goethe fur die Vorkriegsjugend ; die heutigen heissen Town und Wallace. Es hangt einzig von der Einstellung des Einzelnen ab, ob er dies als einen Aufstieg oder als eine Degeneration werten will. Karl May selbst war ein arbeitsbesessener gebildeter Philister, der fiber dreissig Sprachen las, schrieb und sprach, dessen Ideal eine Synthese am Buffalo Bill und Jesus Christus war und in dessen Briefen sich Bibelzitate und Waffendetaills so merkwiirdig und grauenhaft rniqchen.
Heutes noch, ffinftmdzwanzig Jahre nach dem Ende diesel schwer reichen Hfiuserbesitzers, lebt ein Indianer in einer Block- hiitte seines Gartens, ein gezahmter Pfortner des Karl-May- Museums, das such heute noch—oder gerade erst heute- den Anziehungspunkt nicht nur ffir Deutschlands Jugend bildet. Man hat Bibliotheken fiber Klassiker und Romantiker geschrieben ; man hat kaum begonnen, das viel aktuellere Problem des Jugendschriftstellers zu untersnchen. Jene blieben ohne jeden Einfluss, dieser aber bedroht mit seinen " Silber-und Donnerbiichsen," getragen von den Minden einer
endlammtert Jugend, den Frieden der Welts • F. G.